… weiß ich nicht. Als langjähriges Mitglied der Partei kann ich jedoch sagen, es schmerzt. Über Ursachen wird momentan sehr viel geschrieben und gesprochen. Angesichts von 20-prozentigen Umfrageergebnissen ist es notwendig, eine Debatte zu führen. Sehr viele kluge Köpfe machen sich intensiv Gedanken. Das Ursachengeflecht wird fein gesponnen und wieder auseinander genommen. Die Analysen ziehen den Bogen vom gesellschaftlichen Wandel über die Agenda-Politik, die nach links gerückte CDU, bis hin zum jetzigen Parteivorsitzenden, der als unstet wahrgenommen wird. Die Bandbreite der Themen zeigt, dass monokausale Begründungszusammenhänge nicht funktionieren.
Irgendwo liegt der Hase im Pfeffer und wahrscheinlich kommt alles zusammen, summiert sich auf und fügt sich zu einem gordischen Knoten zusammen, den zu zerschlagen noch schmerzhafter wäre. Kein Mensch wünscht sich Siechtum, aber die Alternative einer Nahtoderfahrung ist auch nicht besonders verlockend. Der SPD-nahe Politikberater und Werber Frank Stauss sieht das aktuelle Wählerpotenzial der SPD bei 30 Prozent. Das ist Best-Case. Die Formulierung eines Best-Case-Szenarios ist unter Akquise-Gesichtspunkten sinnvoll, denn der Bundestagswahlkampf rückt in Windeseile näher. Und damit auch die Verteilung der Wahlkampfbudgets. Da ist Mut und Zuversicht gefragt. Das Timing von Frank Stauss ist daher perfekt. Aber wo ein Best-Case, da auch ein Worst-Case. Wo liegt dieser? Bei 17 Prozent, bei 15? Ausgeschlossen ist das nicht. Vielleicht kommt es noch dicker.
Ich könnte jetzt in das Wortgeklingel einfallen und noch einen unbedeutenden Beitrag zur Analyse der aktuellen SPD-Situation verfassen. Ich könnte auch einen sehr persönlichen Storytelling-Beitrag schreiben, was mit mir in den vergangenen 20 Jahren in der SPD passiert ist. Was hat ihre Politik mit mir gemacht? Was ich mit ihr? Wo liegt meine eigene Schmerzgrenze? Dies auszuloten wäre als Selbsttherapie wahrscheinlich nicht schlecht. Aber nicht heute, nicht jetzt.
Ich versuche einfach mal aus beruflicher Sicht ein paar Punkte zu sammeln, die vielleicht helfen könnten – ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ohne perfekte systematische Durchdringung. Dafür fehlt mir als Selbstständiger die Zeit und die Muße. Mist ertappt, da schleicht sich schon wieder was rein, was nicht reingehört. Weg damit, später.
In die Zielgruppe reinhören
Jede Partei hat eine Vorstellung davon, wie ihre Kernwähler aussehen und wo Wählerpotenziale stecken. Es gibt geeignete Analysedaten. Die Meinungsinstitute liefern täglich Stoff, schön verpackt in Diagramme und Powerpoint-Slides. Aus Algorithmen und Erhebungsdaten strategische Empfehlungen abzuleiten ist verlockend, bringt aber nicht immer den nötigen Erkenntniseffekt. Denn die Schwäche der Dateninterpretation liegt immer in der Verdichtung und Reduktion der Aussagen. Dementsprechend reduziert sind in vielen Fällen die Handlungsoptionen, die man sieht. Nuancen und Zwischentöne gehen verloren. Sie sind jedoch wichtig, vor allem, wenn man so extrem unter kritischer Beobachtung steht. Es kommt auf alles an, Pflicht und Kür müssen stimmen. Hier hilft nur der Gang ins Feld.
Sigmar Gabriel hat empfohlen, man müsse dorthin gehen, „wo es brodelt, da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt.“ Mal angenommen, es würde an diesem Höllenort, der sich Basis und treue SPD-Wähler nennt, nicht nur gelegentlich stinken, sondern dauerhaft und richtig stark. Wären Mut und die Entschlossenheit auch noch da? Die SPD muss ihre Kernwähler neu entdecken. Das ist die Voraussetzung für eine programmatische und kommunikative Positionierung.
Und ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Die SPD muss ihre schrumpfenden Kernwähler, die Enttäuschten und verloren gegangenen Wähler wie echte Neuwähler behandeln. Viele sind einfach weg – auch emotional. Dauerhaft, nicht wenige wahrscheinlich für immer. Hier muss die SPD auf Entdeckungsreise gehen. Eine einfache Rückgewinnungsaktion reicht nicht aus. Da muss mehr kommen: an Bereitschaft, an Neugier und an Wunsch, die Menschen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen kennenzulernen. Erst die richtigen Fragen ermöglichen Antworten, die die Partei wieder etwas nach vorne bringen. Wünsche und Forderungen aufnehmen, die Menschen ernst nehmen und mitnehmen. Die SPD hat kein Vermittlungsproblem. Das wäre nicht tief genug gebohrt.
Leitplanken und Koordinaten entwickeln
Leitplanken und Koordinaten sind wichtig zur Orientierung. Sie markieren die Grenzen, in denen sich die Vielfalt an Deutungen, Erwartungen und neugierigen Blicken auf Themen entfalten kann. Was keine Leitplanken und Koordinaten hat, zerfließt. Im Straßenverkehr sind Leitplanken akzeptierte Helfer, damit man nicht von der Fahrbahn abkommt und unfreiwillig gegen einen Baum knallt oder eine Böschung hinabrast. Koordinaten füllen den Raum zwischen den Leitplanken, zeigen die Richtung. Die SPD muss ihr Koordinatensystem neu entdecken. Damit die Wähler wissen, was von ihr zu halten ist, braucht sie selber eine Haltung. Ein klares Selbstverständnis, abgeleitet aus einem klaren Blick auf ihre Zielgruppen und deren Erwartungen an eine Politik der SPD.
Man kann es nicht allen recht machen. Aber gegenüber denen, die einem wichtig sind, sollte man schon etwas mehr zeigen, als das reine Bemühen. „Wofür steht die SPD, was soll ich von ihr halten, was kann und darf ich erwarten?“ Das muss neu verhandelt werden. Worum geht es der SPD? Fragt man sieben Genossen, erhält man vier verschiedene Antworten und drei Fragezeichen. Geht es im Kern einer sozialdemokratischen Partei um soziale Teilhabe, um soziale Verantwortung, soziale Fairness, soziale Sicherheit oder soziale Gerechtigkeit? Die Bandbreite möglicher Antworten ist groß. Die programmatischen Ableitungen, die sich daraus ergeben, jedoch vollkommen unterschiedlich. Die Mitglieder können es nicht genau benennen, wie soll es dann der Wähler?
Ich behaupte: Die berühmte „Mitte der Gesellschaft“ ist eine Ausrede für eine Partei, die sich nicht ordentlich mit ihren Freunden beschäftigen will. Irgendein Politiker sagte mal kurz vor seinem Abgang: „Ich liebe Euch doch alle.“ Mehr Hilflosigkeit lässt sich nicht ausdrücken. Die Person ist bekannt. Das Problem sind „alle“, die vielen, die künstliche Zuordnung dieser Vielen zu einer amorphen Mitte. Darf die SPD sagen „Ich liebe euch doch alle, die ihr in der Mitte seid?“ Hier ist Genauigkeit im Blick gefragt. Denn die Aussage bestimmt das Ausschlussverfahren, denn die „Anderen“, die vielen Anderen gehören nicht mehr dazu. Sie sind draußen, auch die Freunde darunter. Mit dem Zuhören richtet man die Kompassnadel aus und definiert das Kraftfeld. Mit den Leitplanken und Koordinaten werden die Richtungen bestimmt. Die Unterschiede zu anderen Parteien ergeben sich von selbst, wenn man auf seine Freunde hört.
Den Politikwechsel wagen
Jetzt kommt mal eine kleine Anekdote. Vor kurzem habe ich einen Workshop geleitet mit Entscheidern aus dem Arbeitsmarkt. Kein SPD-fernes Publikum. Irgendwann kam die Diskussion auf das Thema „Bedingungsloses Grundeinkommen“. Ich fragte, wer eigentlich dafür sei, wenn das Thema die Teilnehmer so beschäftigt. Von 25 Händen gingen 23 hoch, zwei waren unsicher. Die Kameralisten und Apparatschiks werden jetzt die Hände hochreißen und lautstark einwerfen „Geht gar nicht!“. Aber eine Partei, die so unter Vergangenheitsproblemen leidet wie die SPD, braucht neue Perspektiven und Angebote.
Ja, nicht nur Nachfrageorientierung ist wichtig, auch Angebotsorientierung – mit mutigen Angeboten. Das erzeugt Reibung, Hitze und einen Wechsel der Perspektive. Eine Partei, die halb gefallen ist, halb gezogen wurde in die Rolle eines sozialpolitischen Reparaturbetriebs muss mutige Zukunftsbilder entwerfen. Vielleicht braucht sie sogar Visionen, auch wenn diese bei vielen in der SPD unter generellem Arztverdacht stehen. Aber die Kernfragen lauten doch: „Warum sollte ich die SPD wählen, warum sollte ich in die SPD gehen?“ Wenn hier die Antwort lautet, nur die SPD wüsste, welche sozialpolitische Schraube wie weit nach vorne oder zurückgedreht werden darf, entwickelt weder Phantasie noch die Bereitschaft mitzumachen. Denn so eine Partei ist äußerst langweilig.
Verlässlichkeit bieten
Kaum eine Partei hat in den letzten 15 Jahren einen so radikalen programmatischen Change hingelegt, wie die SPD. Das hat der Partei nicht gut getan. Politische Akzeptanz lebt von Verlässlichkeit. Änderungen müssen vorbereitet werden, damit die Menschen folgen können und das Gesicht der Partei erhalten bleibt. Eine vielköpfige sozialdemokratische Hydra erzeugt Angst und Ablehnung. Wer ein Zukunftskonzept hat, das möglichst vielen Menschen – und nicht nur den Mitgliedern einer immer brüchiger werdenden vermeintlichen Mitte – hilft, in einem globalisierten Turbokapitalismus zu bestehen, muss mit seinen Angeboten zu überzeugen und in der Lage sein, Kurs halten.
Heute hüh und morgen hott machen sich gerade einem immer schneller werdenden Wirtschafts- und Mediengetriebe nicht gut, im Gegenteil: Sie verwässern alles und fressen alles auf, was noch an Restsubstanz da ist. Denn Wählerlinnen und Wähler können nicht folgen. Das Ziel der SPD muss sein, von einer sehr schlechten Ausgangsposition aus wieder Vertrauen zu gewinnen. Die Chancen sind da, mit Kontinuität und Verlässlichkeit Erkennungsmerkmale zu schaffen. Enttäuschungen abbauen, Wunden heilen. Mit Blick auf die vergangenen 15 Jahre bedeutet das, wieder das richtige Tempo für Veränderungen zu finden. Den Reformbegriff neu besetzen, keine Brachialreformen, von oben dirigiert für Menschen, die zu folgen haben. Dies ist nicht zeitgemäß, und vordemokratisch dazu. Das wird alles nicht von heute auf morgen gehen und 2017 kann nur eine Zwischenetappe sein.
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